Dass Felix Mendelssohn ein reisefreudiger Weltbürger war, verraten schon Werke wie seine Hebriden-Ouvertüre, die Schottische oder die Italienische Sinfonie. Eine Schweizer Sinfonie hat Mendelssohn zwar nicht komponiert, besucht hat er die Schweiz in seinem allzu kurzen Leben allerdings gleich viermal – und auf allen diesen Reisen auch in Luzern Station gemacht. Das erste Mal im Sommer 1822, vor genau 200 Jahren also.
Diese allererste «Grand Tour of Switzerland» unternimmt der damals 13-Jährige gemeinsam mit seiner Familie. Und geht am Tag der Abreise aus Berlin, dem 6. Juli, prompt vergessen, als die Kutschen nach einem Zwischenhalt in Potsdam weiterfahren: «In jedem Wagen glaubte man er sei zu den Anderen gegangen, und so war er wirklich zurückgeblieben», berichtet Schwester Fanny. Der mitreisende Hauslehrer Karl Heyse macht kehrt, um seinen verlorenen Schüler zu suchen. Doch der hat auf der staubigen Landstrasse bereits die Verfolgung aufgenommen: «Ein Bauernmädchen gesellte sich zu ihm, sie brachen starke Stöcke ab, und Felix hatte zwei starke Meilen zu Fuss gemacht, als H[err] H[eyse] ihn traf.» Alle seien erleichtert gewesen, notierte Heyse in seinem Tagebuch. Sogar der gestrenge Vater «will ernst und böse aussehen, aber die Freude über das Wiederhaben des Vermissten gewinnt bald die Vorhand».
In Frankfurt vervollständigen zwei Cousinen und ein befreundeter Arzt die Reisegesellschaft, die neben Vater Abraham, Mutter Lea, den vier Kindern Felix, Fanny, Rebecka und Paul sowie Hauslehrer Heyse mindestens zwei Bedienstete umfasst. Entsprechend ist man in gleich drei Kutschen unterwegs. Am 28. Juli erreichen die Mendelssohns Schaffhausen – so spät abends, dass sie vor den bereits geschlossenen Stadttoren lange warten müssen. «Ein böses Omen, dass man uns den Eingang in die Schweiz verwehrt», unkt Heyse. Gleich zweimal besucht die Familie den Rheinfall, «auch im Mondenscheine wo er sich besonders imposant ausnimmt», so Felix in einem seiner Reisebriefe. Die «Farben-Mischungen» des Bodensees, «die kein Maler wagen würde», beeindrucken ihn ebenfalls sehr.
Über St. Gallen und das Rheintal geht es nach Zürich, wo das schlechte Wetter die Mendelssohns einige Tage festhält. Von Zürich aus unternehmen sie einen Abstecher ins Linthtal und nach Glarus, «wo wir zum erstenmale Schneeberge in der Nähe sahen». Auf den Spuren von Schillers Wilhelm Tell besuchen sie die Hohle Gasse, die laut Felix «nicht so schrecklich ist, als Schiller sie sich wohl gedacht haben mag». Ein weiterer Höhepunkt ist die Rigi, die die Reisegruppe «mit einer Caravane von Trägern, und Führern, zusammen 34 an der Zahl», erklimmt. Wieder spielt das Wetter nicht mit, verbringt man im Gasthaus auf dem Gipfel zwei Tage im dichten Nebel. «Den dritten Morgen aber tönte das Alphorn, das geblasen wird, wenn heiteres Wetter ist», berichtet Felix. «Wir sahn die Sonne aufgehn, sahn die Schneekette, Jungfrau, Finsteraarhorn, Schreckhorn, Eiger, Wetterhorn et Compagnie».
Nach dem Abstieg geht es am 14. August per Schiff nach Luzern, das sich mit seiner Stadtmauer und den «vielen Thürmchen sehr stattlich» präsentiere, so Fanny. Hier entsteht auf der Anhöhe Allenwinden eine der über 50 Zeichnungen, in denen Felix seine Reiseeindrücke festhält – und anwendet, was er in Berlin beim Kunstprofessor Samuel Rösel gelernt hat. Die Fotografie war ja noch nicht erfunden. Ohnehin sei ihr Bruder nie müssig, sondern «fleissig und thätig wie immer», weiss Fanny. Felix zeichnet, komponiert, gibt dann und wann private Konzerte und probiert zahlreiche Schweizer Kirchenorgeln aus. «Es ist ihm nicht möglich eine Stunde lang unbeschäftigt zu bleiben.»
Tags darauf besteigen die Mendelssohns erneut ein Boot, um nach Flüelen zu fahren – und werden von einem Hagelsturm überrascht: «Dicht bei Tells Platte lief das Schiff unter einen kleinen Schoppen, und kaum waren wir geborgen, als ein furchtbares Hagelwetter begann und etwa eine halbe Stunde anhielt», so Fanny. Sie besuchen Altdorf, gelangen durchs Reusstal nach Andermatt und machen auf dem Rückweg, am 19. August, nochmals Halt in Luzern, bevor sie durchs Emmental nach Thun und von dort über den See nach Interlaken gelangen. Dieser Ort scheint Felix besonders zu gefallen; jedenfalls wird er ihn auf allen seinen vier Schweizer Reisen besuchen und jedes Mal die alten Nussbäume hinter dem Hotel zeichnen, in dem die Familie 1822 residiert.
Selbstverständlich – denn die Mendelssohns haben ihren Goethe gelesen – steht von Interlaken aus ein Besuch des Lauterbrunnentals mit dem Staubbachfall auf dem Programm. Ausserdem steigen sie zur Wengernalp auf, teils zu Fuss, teils zu Pferd oder im Tragsessel. Sie erleben Schneelawinen («Wir zählten deren 10 in dem kurzen Zeitraum einer halben Stunde», staunt Fanny) und kehren in einer Sennhütte ein, um sich aufzuwärmen. «Die Figur, die wir darin machten, wie auch unser Essen waren sonderbar», hält Felix fest. «In solcher Hütte Schals, Kanten und weiss Gott wie all der Modekram heissen mag, zu sehen, war ebenso sonderbar, wie zur dicken Milch und dem Käse, den die Hirten lieferten, Schokolade und Bonbons zu essen, die die Damen lieferten.»
Über Grindelwald und Bern – Tante Henriette empfiehlt Felix aus der Ferne einen Bäcker, der «auf seine Art herrliche Werke» komponiere – geht es schliesslich an den Genfersee und von dort aus über Neuchâtel und Basel zurück nach Deutschland. Gut drei Monate war man am Ende unterwegs, zwei davon in der Schweiz.
Auch wenn Felix Mendelssohn keine Schweizer Sinfonie hinterlassen hat, finden sich in seinem Frühwerk durchaus klingende Reisesouvenirs. So stösst man in den Scherzi seiner Streichersinfonien Nr. 9 (hier reinhören) und 11 (hier reinhören), jeweils mit dem Vermerk «Schweizerlied» versehen, u. a. auf den Emmentaler Hochzeitstanz Bin alben a wärti Tächter gsi, den Mendelssohn in einer damals beliebten Sammlung von Schweizer Kühreihen und Volksliedern entdeckt hatte. Und auch das Jodeln hat Spuren hinterlassen. «Es ist nicht zu leugnen, dass diese Art von Gesang in der Nähe oder im Zimmer rau und unangenehm klingt», schreibt Mendelssohn seinem Berliner Kompositionslehrer Carl Friedrich Zelter. «Doch wenn Echos darauf antworten oder sich damit vermischen, wenn man im Thale steht, und auf dem Berge oder im Walde das Jodeln und das Jauchzen hört, das der Enthusiasmus der Schweizer für ihre Gegend hervorbringt, […] dann klingt dieser Gesang schön, ja er hängt genau mit dem Bilde zusammen, das ich mir von einer Gegend mache, und gehört gleichsam zu einer Schweizer Landschaft.» Weniger angetan hat es ihm dagegen «der viel belobte Gesang der Schweizermädchen». Schwester Fanny spottet gar: «Die berühmten Berner Sängerinnen pfeifen wie die Mäuse, und singen Quinten, welche einem das Herz zerreissen.»
Noch dreimal sollte Mendelssohn Luzern besuchen. 1831 durchwanderte er die Schweiz, von Italien kommend, trotz widriger Wetterverhältnisse zu Fuss und wohnte einer Aufführung des Wilhelm Tell durch die Luzerner Theater- und Musikliebhabergesellschaft bei: «Das ganze Ding war sehr Arkadisch und ursprünglich, wie die Kindheit des Schauspiels», meldet er nach Weimar an Johann Wolfgang von Goethe. Im August 1842 traf er hier mit seiner Familie zur Weiterreise nach Zürich zusammen, nachdem er allein über den Surenenpass nach Engelberg gewandert war. Und auch seine letzte Reise überhaupt führte Mendelssohn im Sommer 1847 in die Schweiz, allerdings unter ganz anderen, düsteren Vorzeichen: Nach dem überraschenden Tod seiner geliebten Schwester Fanny suchte er Erholung und Trost. Er mied Gesellschaft, unternahm stattdessen ausgedehnte Wanderungen und fertigte Aquarelle von vielen der Orte an, die er ein Vierteljahrhundert zuvor gemeinsam mit Fanny kennengelernt hatte – auch von Luzern.
Ausserdem komponierte er das f-Moll-Streichquartett op. 80, sein «Requiem für Fanny» ( hier reinhören). Es sollte sein letztes grösseres Werk bleiben, denn kurz nach seiner Rückkehr nach Leipzig verstarb er am 4. November 1847, gerade einmal 38-jährig, an den Folgen zweier Schlaganfälle. Womit sich ein Kreis schliesst, hatte Mendelssohn doch auf seiner ersten Schweiz-Reise 1822 mit der Arbeit am c-Moll-Klavierquartett (hier reinhören) begonnen, das er als sein offizielles Opus 1 veröffentlichte.
Malte Lohmann | Redaktion