Auch in der klassischen Musik mischten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neue nationale und lokale Idiome in die bekannte Klangsprache.
Mehr lesenDas Fremde hat Künstler*innen schon seit jeher fasziniert. Ab 1800 sind die Alpen in ihrer Schroffheit ein faszinierendes Reiseziel, so auch für den britischen Künstler J.M.W. Turner, der in Luzern immer wieder die Rigi in verschiedenen Lichtstimmungen malt. Max Pechstein hingegen, ein deutscher Maler des Expressionismus, malt 1914 das Idyll er Südseeinsel Palau und porträtiert die indigenen Frauen und Kinder in stereotypen Bildern, für die er später kritisiert wird. Die Bilder seien eine koloniale Konstruktion aus westlicher Perspektive und würden Minderheiten als «Wilde» darstellen, heisst es. Auch in David Hockneys Werk, das aktuell in einer grossen Retrospektive im Kunstmuseum Luzern zu sehen ist, lassen sich zahlreiche Einflüsse anderer Kulturen und Vorbilder finden. Doch welche Funktion haben Sie und wie sind sie entstanden? Sind sie gar problematisch wie im Fall von Pechstein?
Als Kunststudent in den 1960er-Jahren experimentiert David Hockney mit verschiedenen Stilen und nähert sich der Abstraktion an, die zu jener Zeit in der Kunst gerade en vogue ist. Mit seinen Bildern thematisiert er die eigene Homosexualität, mit der er sich vertieft auseinandersetzt. 1964 zieht David Hockney vom eher biederen London nach Los Angeles, wo er schlagartig berühmt wird. Er stellt sich die Stadt am Pazifik bereits vor seiner Ankunft durch die Lektüre des homoerotischen Magazins «Physique Pictorial» vor, das athletische Männer posierend unter der Sonne Kaliforniens und in knapper Bekleidung zeigt. Überhaupt ist L.A. für Hockney ganz anders als England: Homosexualität ist offen lebbar und an jeder Ecke der Stadt sind attraktive Menschen, die ihre Schönheit gerne zur Schau stellen. Das ideale Terrain für einen Künstler wie Hockney! Denn für ihn ist die Fremde in Amerika von grosser erotischer Anziehungskraft und sie erlaubt ihm, sich persönlich und künstlerisch zu entfalten.
In der Kunst verschmilzt Hockneys Begehren mit Fantasie und Einflüssen anderer Künstler:innen. Er verschlingt die homoerotischen Gedichte von Walt Withman und Konstantinos Kavafis und träumt sich in deren poetische Welten. Dass Realität und Fiktion weit auseinanderliegen, erfährt Hockney am eigenen Leib. In Kavafis’ Gedichten treffen sich Männer in den Strassen Alexandrias, dem Tabakladen oder im Bett. Die Figuren haben Schamgefühle, denn ihre Handlungen sind verboten. Dennoch ist ihre Begierde stärker und die Atmosphäre erhitzt durch lüsterne Blicke und zärtliche Berührungen. Hockney ist fasziniert von dieser fast schon mystischen Aura der Stadt, wie sie Kavafis beschreibt, doch schnell kommt die Ernüchterung: Als Hockney Alexandria besucht, findet er die Stadt in krassen Gegensatz zu seinen Vorstellungen. Von der kosmopolitischen Geschäftigkeit und der Sinnlichkeit findet er keine Spur. Erst drei Jahre später findet Hockney in Beirut die sinnliche Atmosphäre wieder, die ihn schliesslich zur Lithografie-Serie Illustrations for Fourteen Poems from C.P. Cavafy (1966–67) inspirieren. Die Romantisierung des Orients hat Tradition in der westlichen Kunst und wird in der Kunstwissenschaft kritisch als Orientalismus bezeichnet. Gerade die Sexualität scheint hier ein Minenfeld, die Künstler:innen dazu verleitet ihre eigene Begierde auf fremde Kulturen zu projizieren und diese zu banalisieren. Hockneys Zeichnungen würdigen jedoch niemanden herab, im Gegenteil, sie zeigen auf sehr natürliche Weise wie homosexuelle Liebe aussehen kann, egal ob in L.A. oder Alexandria. Und das in einer Zeit, in der Homosexualität noch vielen Ländern verurteilt und bestraft wird. Die Veröffentlichung von Illustrations for Fourteen Poems from C.P. Cavafy fällt mit der Entkriminalisierung von Homosexualität in Grossbitannien im Jahr 1967 zusammen.
Nach einer «naturalistische Phase» in den 1970er-Jahren, verfolgt David Hockney im darauffolgenden Jahrzehnt ein ganz neues künstlerisches Programm. Der «Moving Focus» (der bewegliche Blick) wird zu seinem Leitsatz und die Interieurs, Stillleben und Porträts werden schiefer, dynamischer, die Fluchtpunkte verschieben sich vor, hinter oder neben das Bild. In Acatlán in Mexiko skizziert er 1984 den malerischen Innenhof eines Hotels im Kolonialstil. Er will beweisen, «dass die vielleicht grössten Fehler des Westens die Einführung des äusseren Fluchtpunkts und des Verbrennungsmotors waren.» Wobei er als passionierter Autofahrer letzteres wohl nicht ganz so ernst meint. Für sein neues Bildverständnis orientiert er sich an chinesischen Bildrollen. Diese zeigen meist Landschaftsbilder im extremen Panoramaformat und kennen weder Schatten noch Zentralperspektive. David Hockney dienen sie als Inspiration, denn sie sind viel räumlich vielfältiger und freier als ihre westlichen Pendants, die sich an einem zentralen Fluchtpunkt orientieren. Nebst der chinesischen Kunst steht auch Picasso mit seiner Stilvielfalt und der eklektischen Palette Hockney Pate. Indem sich Hockney von anderen Kulturen und Künstler*innen inspirieren lässt, rüttelt er am Selbstverständnis der modernen Kunst und stellt den westlichen Blick auf die Welt in Frage.
Auf www.hockney2022.ch erzählen wir weitere Geschichten aus David Hockneys Leben und über seine Motive.
Beni Muhl, Kunstmuseum Luzern