Alchemie der Klänge
Sie werden keine Seerosen im Konzertsaal sehen. Monets Seerosen hängen vielmehr in vielen berühmten Museen, in der Schweiz etwa im Kunsthaus Zürich und in der Fondation Beyeler in Basel. Erfahrungen mit Monets Seerosen lassen sich jedoch auf das Hören und auf die Musik der ersten Ausgabe von Lucerne Festival Forward übertragen. Gottfried Boehm schreibt in seinem Aufsatz Die Alchemie des Lichts, veröffentlicht 2017 im Basler Katalog Monet. Licht, Schatten und Reflexion, über das Wesen von Monets Kunst: Monets Malerei eröffne neue Potentiale, indem sie die Betrachter*in einfange in den Prozess der Bildfindung. «Es geht um eine rätselhafte Präzision des Unpräzisen, um die luzide Energie des Dunstes. Wir sind die Augenzeugen einer luminalen Alchemie.»
Hören als dynamischer Prozess
Wichtige Voraussetzung für einen solchen Bildfindungs-Prozess ist dabei die Offenheit des Betrachters, sich auf das Kunstwerk einlassen und vor allem in eine eigene rezeptive Aktivität einzutreten, damit eine vertiefte Verbindung und Beziehung mit dem Kunstwerk überhaupt erst entstehen kann.
«Monets Gemälde angemessen zu sehen erfordert auch vom Betrachter eine Bereitschaft und ein Umdenken. Er muss davon abkommen, sein Wissen (um bestimmte Gegenstände, aber auch stilistische bzw. historische Einordnungen) lediglich zu bestätigen. Vor allem aber sollte er lernen, dass Sehen nicht nur das Feststellen ist von Dingen, die uns kulissenartig entgegentreten, sondern ebenso sehr ein dynamischer Prozess. Es geht um das Sichtbar-Werden mehr als um das Sichtbar-Sein.» (Gottfried Boehm)
Das «Ungegenständliche» der Neuen Musik, das Fehlen von gewohnter Rhythmik, Melodik und Harmonik braucht ebenfalls ein dynamisches, aufmerksames Hören, ein «beobachtendes Hören» (Helmut Lachenmann). In der bildenden Kunst zählt Monet zu den Wegbereitern einer abstrakten Kunst. Der Begriff «abstrakt» lädt zu einem klärenden Exkurs ein: Es gibt – per se – keine abstrakte Musik. Musik im Konzert kommuniziert mit Tönen, ist immer hochgradig sinnlich. Abstrakt im Zusammenhang mit Neuer Musik ist meist eine Zuschreibung, die häufig bloss ausdrückt, dass ihr das «Fassliche» bekannter Musik fehlt. Konstatiert wird eine Tendenz, dass seit Arnold Schönberg und Anton Webern (von ihm stammt der Begrifft der «Fasslichkeit») mit vermeintlich abstrakten Systemen (Zwölfton-Kompositionsmethode, Serialismus) komponiert wird – was aber eben nicht ganz stichhaltig ist, weil sich solche subkutanen, hochkomplexen Systematisierungen schon in der Polyphonie der Renaissance bis hin zu Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven usw. feststellen lassen. Es ist das klingende Resultat – an der Musik ist wesentlich ihr Erklingen –, auf das es ankommt. Stets ist ein dynamisches Hören gefordert. Nichts anderes meint Pauline Oliveros mit dem von ihr geprägtem Begriff des «Deep Listening».
Come close, dive in
Eine gemeinsame Verbindung hat sich bei der Sondierung der Programmvorschläge für Lucerne Festival Forward und in den Diskussionen mit den Contemporary Leaders herauskristallisiert. Bei vielen Stücken unseres neuen Festivals geht es tatsächlich um das Schaffen von Unmittelbarkeit und Nähe. Momenthaftigkeit (Monets «instantanéite») und ein Umgeben-Sein von Klängen (vergleichbar dem Auflösen des Bildrands, des Distanzmoments) fördern jenes «Eintauchen», wie man es auch bei Monets Seerosen-Bildern erlebt. Boehm schreibt, Monet verschiebe «die Linie des Horizonts zunächst unter den oberen Bildrand, um schliesslich auf dieses Distanzmoment ganz zu verzichten. Jene bekannte Erfahrung des Im-Bilde-Seins, des Eintauchens in das gewählte Motiv, beginnt sich zu entwickeln und sie verstärkt sich, weil Wasser, Wolken, Pflanzen oder Blüten nun zu einer einzigen Grösse verschmelzen: Die Seerosen schweben über dem undurchschaubaren Dunkel der Tiefe und öffnen ihre Kelche dem Licht der Sonne als Repräsentanten einer fliessenden, einer kosmischen Welt.»
Surround
Solche Floating-Erfahrung entsteht, wenn unser hochsensibles Hörorgan auf quasi Monet’sche Musik trifft. An ein fliessendes Bildkontinuum, auch All-over genannt, erinnern viele Werke von Lucerne Festival Forward: mit «unscharfen» Konturen, feinen mikrotonalen Schwebungen, minimalen, fast statischen Klangentwicklungen. Fast alle arbeiten sie mit der Verräumlichung des Musikhörens: Die Musiker*innen umrahmen – um nicht zu sagen: umarmen – das Publikum von allen Seiten. Die Trennung von Bühne und Publikum – eine gleichsam äussere Situation: wir sitzen im Konzertsaal und erwarten, dass Musiker*innen Werke für uns spielen – wird aufgehoben zugunsten einer hochgradig immersiven Erfahrung.
Dafür braucht es das gute Zusammenwirken von Raum, Werk, Stück … und eben auch der (aktiven) Hörerin bzw. dem (aktiven) Hörer. Und dann geschieht sie, jene quasi kosmische Verschmelzung, wie Gottfried Boehm sie am Ende seines Aufsatzes beschreibt. «Es gehört zum besonderen Reiz dieser Malerei und signalisiert ihr künstlerisches Niveau, dass die innere und äussere Empfindung miteinander verschmelzen. In uns und ausser uns: dasselbe.»
Vertiefte Beziehung zwischen Musik und Zuhörer*in
Noch ein anderer bildender Künstler, Mark Rothko, spricht von der besonderen Beziehung zwischen Werk und Betrachter*in als Grundlage für eine gute und beglückende Kunsterfahrung. «Ein Bild lebt in Gemeinschaft, indem es sich in den Augen des einfühlsamen Betrachters entfaltet und dadurch in ihm auflebt. Es stirbt, wenn diese Gemeinschaft fehlt.» An anderer Stelle schreibt Rothko: «Keine erdenkliche Anhäufung von Anmerkungen vermag unsere Gemälde zu erläutern. Ihre Erklärung ergibt sich aus einer vertieften Beziehung zwischen Bild und Betrachter. Die Würdigung von Kunst ist eine echte Heirat der Sinne. Und wie in der Ehe ist auch in der Kunst fehlender Vollzug Grund zur Annullierung.» («No possible set of notes can explain our paintings. Their explanation must come out of a consummated experience between picture and onlooker. The appreciation of art is a true marriage of minds. And in art, as in marriage, lack of consummation is grounds for divorce.»)
Die Erfahrung eines solchen gemeinschaftlichen Kunsterlebnisses war bestimmendes Thema bei den Gesprächen mit unseren Contemporary Leaders während der Entwicklung des diesjährigen Forward-Programms. Kein Wunder, hat die Pandemie das Konzertleben doch zum Erliegen gebracht. Es kam zu einer «Pause» – wobei Innehalten und Reset nicht die schlechtesten Begleiterscheinungen der Pandemie sind. Forward macht nicht einfach weiter (wo die zeitgenössische Musik aufgehört hat). Aus einer Dringlichkeit – einem Kairos – heraus sind die besonderen Programme entstanden, die nicht nur in ihrer Diversität, sondern besonders auch durch ihre ganz eigene Ästhetik «einmalig» sind. Insofern stehen sie für das Motto von Lucerne Festival Forward: «Come close and move forward together.»
Die Sorge der Künstlerin bzw. des Künstlers, «unverstanden» zu sein, hat immer auch zu tun mit der latenten Gefahr des Scheiterns von avancierter, neuer Kunst. Deswegen hat die glückliche und tiefe Beziehung zwischen Publikum und Kunst eine so grosse Bedeutung. Beim Konzert, bei der Musik gibt es drei Protagonisten: Das Werk, die Musiker*innen und Sie, das Publikum. Begegnung, Feedback im Konzert – das haben die Musiker*innen am meisten vermisst, genau wie Sie. Wer weiss, vielleicht werden Sie Seerosen im Konzertsaal hören.
Mark Sattler | Dramaturgie Contemporary