Die in Tokio lebende japanische Komponistin Yu Kuwabara (*1984) unternimmt in ihren Werken den Brückenschlag zwischen zeitgenössischem Komponieren und traditioneller japanischer Kunst und Musik. 2017 wählte Wolfgang Rihm sie für das Composer Seminar der Lucerne Festival Academy aus, vor zwei Jahren stellte sie beim Forward-Festival Hidden Melody vor, ein Auftragswerk für Patricia Kopatchinskajas Ligeti-Projekt «Auf der Suche nach György Ligetis verlorener Melodie». In diesem Herbst erklingt als Schweizer Erstaufführung Yu Kuwabaras virtuoses Ensemblestück Time Abyss.
In Time Abyss denken Sie über Zeit nach. Genauer: Sie manipulieren den musikalischen Parameter «Tempo», um unser Zeitempfinden (und auch das der Musiker*innen) zu irritieren. Wie gelingt das?
In Time Abyss arbeite ich mit drei eigenständigen Zeitfeldern: In «Nested Time» («Verschachtelte Zeit») reihe ich derart viele Ritardandi aneinander, dass das Tempo doppelt so langsam wird wie zu Beginn. In «Slanted Time» wähle ich ganz bewusst ein sehr langsames Tempo, wodurch sich in jedem Takt ein enormer Raum öffnet. Das führt zu Irritationen und Aussetzern im Tempogefühl der Interpret*innen, was wiederum ihre Abstimmung untereinander erschwert. Folglich müssen sie sehr genau mitzählen und sich darauf konzentrieren, die Spannung aufrechtzuerhalten, bevor sie Töne erzeugen. Sie schenken also jedem einzelnen Ton deutlich mehr Aufmerksamkeit als sonst, und das maximiert seine Energie. In «Twisted Time» schliesslich ändert sich der Beat mit jedem Takt. Diese drei ganz verschiedenen Zeitfelder wechseln einander ab. Ich habe versucht, eine «Form» zu finden, die vom einen Zeitfeld ins andere «moduliert». Es klingt ein wenig so, als würde man drei verschiedene Musikstile gleichzeitig hören und andauernd zwischen den «Kanälen» hin und her wechseln.
Sie schreiben, dass Sie dazu durch Ihre Auseinandersetzung mit der traditionellen japanischen Musik und Kunst angeregt wurden. Inwiefern?
Komponieren ist für mich eine Möglichkeit, darüber nachzudenken, wer ich bin. Konkreter formuliert: warum ich als Japanerin in Japan geboren wurde. Ich versuche immer, die Essenz einer spezifisch japanischen Klangvorstellung, eines spezifisch japanischen Zeitempfindens usw. einzufangen. Meine Musik ist organisch in dem Sinne, dass sich die mit der Atmung verbundene Energieübertragung und die «Stimme», die im Bewegungssinn des Körpers wurzelt, in und durch das Klangbild manifestieren – und zwar nicht bloss im Sinne einer Analogie. Entsteht unser Zeitgefühl aus der Ansammlung von Kleinigkeiten, entspricht es nicht der an die Kategorie der «Nützlichkeit» geknüpften Zeit, die unser Leben üblicherweise bestimmt; dieses rein quantitative Zeitgefühl wird durch den Wechsel und das Zusammenspiel der drei Zeitfelder [in meiner Komposition] zerstört. Was sich stattdessen ausbildet, ist eine andere, qualitative, eine phänomenologische, auf unserer Erfahrung beruhende und gelebte Zeiterfahrung.
Schon Ihr Werktitel macht mit dem Wort «Abyss» («Abgrund») deutlich, dass zur Dimension der Zeit noch die Dimension des Raumes tritt: Die 17 Musiker*innen sind auf zwei Gruppen aufgeteilt, beide Gruppen sind zudem unterschiedlich gestimmt. Wie hängt beides – Raum und Zeit – in Time Abyss musikalisch zusammen?
Zeit und Raum sind für mich ambivalente, fast gleichbedeutende Begriffe. Klang/Musik ist ja bereits Zeit und Raum. Meine Musik entsteht, indem ich dem Zusammenspiel zwischen diesen beiden Seiten der Gleichung nachlausche und die Qualitäten einfange, die zwischen ihnen entstehen, um sie dann subtil abzustufen. Dass ich die 17 Musiker*innen in zwei Gruppen aufgeteilte habe, hängt mit meinen Vorstellungen hinsichtlich Klangqualität und -farbe zusammen. Ich wollte allerdings auch die Übergänge zwischen zwei klar umrissenen Welten erkunden.
Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) | Mariano Chiacchiarini | Patricia Kopatchinskaja