Patricia Kopatchinskajas inszeniertes Konzert «Dies Irae», 2017 © Priska Ketterer / Lucerne Festival
Patricia Kopatchinskajas inszeniertes Konzert «Dies Irae», 2017 © Priska Ketterer / Lucerne Festival

Dona nobis pacem betitelt Patricia Kopatchinskaja das inszenierte Konzert, das sie gemeinsam mit den Lucerne Festival Contemporary Leaders eigens für Lucerne Festival Forward 2024 (15. bis 17. November) entwickelt. Sie knüpft damit an ein Stück von Galina Ustwolskaja an, mit dem das Programm beginnt – und das zunächst so gar nicht nach Frieden klingt. Für ihre «Komposition Nr. 1 Dona nobis pacem» aus den Jahren 1970/71 wählte die Russin die ungewöhnliche Besetzung aus Piccoloflöte, Tuba und Klavier. Das höchste und das tiefste Blasinstrument treffen also aufeinander – und reizen die klanglichen Extreme weidlich aus: Schrille Schreie hier, tiefe, drohende Gebärden dort, während das Klavier mit Faust und Unterarm traktiert wird. Erst ganz am Schluss findet die Musik zu so etwas wie einem verinnerlichten Gebet.

«Wie eine Explosion in meinem Kopf»: So hat Patricia Kopatchinskaja die Wirkung der Werke Galina Ustwolskajas einmal beschrieben. «Hörst du diese Musik, dann ändert das dein Leben: Nichts klingt danach wie zuvor. Es ist, als ob man sich inmitten eines Erdbebens befände, am Rande eines Abgrunds; wie eine Naturgewalt kann diese Musik töten. Jeder sollte einmal in seinem Leben etwas von Galina Ustwolskaja gehört haben, sie ist ein Muss in unserer Zeit.»

Patricia Kopatchinskaja spielt Galina Ustwolskajas «Dies Irae», 2017 © Priska Ketterer / Lucerne Festival
Patricia Kopatchinskaja spielt Galina Ustwolskajas «Dies Irae», 2017 © Priska Ketterer / Lucerne Festival

Auch in ihrem neuen inszenierten Konzert Dona nobis pacem geht es Patricia Kopatchinskaja um solch eine verändernde Musikerfahrung: Erschüttert von den Kriegen, die derzeit die Welt beherrschen, habe sie sich vorgestellt, «der Konzertsaal wäre ein Bunker, in dem man gemeinsam Schutz sucht, und draussen geht die Welt unter». Sie habe sich gefragt, «wie es ist, wenn man nicht weiss, was einen erwartet, wie lange der Tod auf sich warten lässt. Wie es denen geht, die sich nicht schützen können. Ich wollte wissen, welche Wirkung die Musik in einer solchen Situation auf uns hat. Welche Musik unter solchen Umständen gespielt und gehört werden kann: Welche Klänge können uns trösten? An was erinnert man sich? Was gibt Hoffnung, was widerspiegelt Ängste, Träume, Verzweiflung, Wut? Singt man ein Kinderlied vor sich hin oder spricht man vielleicht ein Gebet? Und hat die Musik überhaupt einen Sinn, wenn man um sein Leben ringt?»

Ausgewählt hat Patricia Kopatchinskaja in Zusammenarbeit mit den Contemporary Leaders deshalb Werke, die ganz unterschiedliche Gewalterfahrungen spiegeln – historische und (wieder) aktuelle, kriegerische, religiöse und rassistische. Drei Schlaglichter.

Komponist Blaise Ubaldini
Komponist Blaise Ubaldini

Blaise Ubaldini: «Rusty Song»

In die Zeit des Ersten Weltkriegs führt uns Blaise Ubaldini. Sein Rusty Song erinnert an den französischen Leutnant Henri Herduin, der am 11. Juni 1916 ohne Gerichtsurteil exekutiert wurde, weil er in einer der mörderischen Schlachten um Verdun – eingekesselt, ohne Munition und ohne Verstärkung – den Rückzug angeordnet und so die Reste seiner Kompanie gerettet hatte. Der Vorwurf: Er habe das Schlachtfeld ohne Befehl verlassen. Wenige Stunden vor seiner Erschiessung (die er dann selbst befehligen sollte) schrieb er einen berührenden Brief an seine Frau. Dieser Text ist der Partitur vorangestellt, denn er soll bei Aufführungen laut vorgelesen werden: Ubaldini möchte an Henri Herduin erinnern, «ihm eine Stimme geben und ihm zuhören».

«Meine geliebte kleine Frau! Wie ich Dir bereits berichtet habe, haben wir eine Niederlage erlitten. Bis auf mich und ein paar Männer haben die Deutschen mein ganzes Bataillon gefangengenommen. Nun schimpft uns Oberst Bernard Feiglinge – als ob wir mit 30 oder 40 Mann so lange hätten durchhalten können wie mit 800! Nun, ich habe mich in mein Schicksal gefügt, ich schäme mich nicht. Doch bevor ich sterbe, meine liebe Fernande, denke ich an Dich und den kleinen Luc! Fordere meine Rente ein, Du hast ein Anrecht darauf. Mein Gewissen ist rein, und so will ich sterben, indem ich selbst das Erschiessungskommando befehlige: vor meinen weinenden Männern! Ich küsse dich zum letzten Mal, wie verrückt! Klagt nach meinem Tod die Militärjustiz an. Die Chefs suchen immer noch nach Verantwortlichen; und sie finden sie, weil sie sich selbst entlasten möchten! Mein geliebter Schatz, ich gebe Dir einen dicken Kuss und denke an unser vergangenes Glück. Ich küsse meinen Sohn, der sich für seinen Vater nicht schämen muss, denn ich habe meine Pflicht getan! Kaum auszudenken, dass dies das letzte Mal ist, dass ich Dir schreibe. Oh, mein schöner Engel, sei tapfer, denk an mich! Ich gebe Dir meinen letzten und ewigen Kuss! Leb wohl, ich liebe dich! Ich werde im Bois de Fleury, nördlich von Verdun, beerdigt. Der Abbé kann dir alle Informationen geben!»

So wie «der Krieg die Menschlichkeit aus dem Leben saugt», lässt Ubaldini seinen Rusty Song mit unbestimmten Tonhöhen beginnen: mit einer Musik, der ihr «harmonischer Inhalt» entzogen sei, so Ubaldini. Aus dieser «kalten und leeren Klangwelt» schäle sich nach und nach die «Erinnerung an ein Wiegenlied» heraus. Ubaldini zitiert dafür einerseits Textfragmente des berühmten Wiegenlieds von Franz Schubert. Er versuche, damit Schuberts «Seele zu beschwören, denn er ist mir so lieb, und ich fühle mich geborgen, wenn ich weiss, dass er umherstreift». Andererseits greift Ubaldini ein 1914 entstandenes Wiegenlied des Debussy-Zeitgenossen Déodat de Séverac auf: Ma poupée chérie. «Meine Mutter, die es von ihrer Mutter gelernt hatte, sang es mir vor, als ich noch klein war. Es ist das erste musikalische Gefühl, an das ich mich erinnern kann.»

Aber warum überhaupt Wiegenlieder? Weil auch sie Kriegslieder sind, so Ubaldini: «Wie viele verzweifelte Mütter haben ihren verwaisten Kindern diese Lieder vorgesungen!»

Komponistin Hannah Kendall
Komponistin Hannah Kendall

Hannah Kendall: «Tuxedo – Dust Bowl #3»

In einen ganz anderen – nämlich rassistischen und kolonialen – Kontext der Gewalt führt uns Hannah Kendall. Die schwarze Komponistin, die u. a. in New York bei Georg Friedrich Haas und George Lewis in New York studierte und 2022 den Hindemith-Preis erhielt, wurde 1984 in London geboren. Ihre Eltern stammen aus der ehemaligen britischen Kolonie Guyana. In vielen ihrer Werke setzt sich Kendall mit dem Leid der Afrodiaspora auseinander. Auch Tuxedo: Dust Bowl #3 sei «ein meditatives Klagelied, ein gemeinschaftlicher Ausdruck von Trauer, Verlust, Vertreibung und Verzweiflung; von einem Leben in der Wildnis, in der Wüste, in einer Schüssel aus Staub, wo alles vertrocknet und zerstört ist».

Ihrer Partitur stellt Kendall Verse aus dem biblischen Buch Joel voran. Eindrücklich schildern sie die Verheerungen, die eine Heuschreckenplage in Juda hinterlassen hat: «Das Feld ist verwüstet und der Acker ausgedörrt; das Getreide ist verdorben, der Wein steht jämmerlich und das Öl kläglich. Steht beschämt, ihr Ackerleute, heult, ihr Weingärtner, um den Weizen und um die Gerste, weil aus der Ernte auf dem Felde nichts werden kann! Der Weinstock steht jämmerlich und der Feigenbaum kläglich, auch die Granatbäume, Palmbäume und Apfelbäume, ja, alle Bäume auf dem Felde sind verdorrt. So ist die Freude der Menschen zum Jammer geworden.»

Tuxedo: Dust Bowl #3 (der Titel von Kendalls Tuxedo-Reihe spielt auf ein Gemälde von Jean-Michel Basquiat an) ist als offenes Werk angelegt: Jede*r kann es aufführen, und das an jedem denkbaren Ort – drinnen wie draussen, idealerweise im Raum verteilt. Ob bloss die reine Mundharmonika-Version oder auch der optionale Vokalpart gesungen wird, ob gar ein ganzes Orchester die Partitur erklingen lässt, entscheiden die Interpret*innen. Auch in der Ausführung der vorgegebenen Akkorde sind sie relativ frei. Die Mundharmonika, so Kendall, sei «als Instrument mit der Trauer der Afrodiaspora verbunden und erzeugt eine brutale, harte Klangwelt, die für die Plantagen steht.»

Komponist Samir Odeh-Tamimi
Komponist Samir Odeh-Tamimi

Samir Odeh-Tamimi: «Li-Sabbrá»

Geht es bei Kendall um Klage und Entwurzelung, so macht Samir Odeh-Tamimi in Li-Sabbrá Gewalt sehr direkt und plastisch erfahrbar. 1970 in Jaljulia bei Tel Aviv als Kind palästinensischer Eltern geboren, kam Odeh-Tamimi als 23-Jähriger nach Deutschland. Mit seinem 2005 entstandenen Duo, das in Luzern in der Version für Saxofon und Schlagzeug erklingt, ruft er das Blutbad in Erinnerung, das christliche Milizen im September 1982 in den Palästinenserlagern Sabbrá und Shatila im Süden der libanesischen Hauptstadt Beirut anrichteten. Unter den Augen der israelischen Armee, die Beirut zu dieser Zeit kontrollierte, metzelten sie Hunderte unbewaffnete Zivilisten nieder. Die Eruption der Gewalt, die Schreie der Opfer, ihre Panik: All das meint man in Odeh-Tamimis Musik zu hören. In den Schlägen des Tamtams, die immer lauter werden – so als würden sie näherkommen; in den heftigen Ausbrüchen des Saxofons; in den gnadenlosen Paukenhieben.

Malte Lohmann