Anton Bruckner, Gemälde von Ferry Bératon, 1890
Anton Bruckner, Gemälde von Ferry Bératon, 1890

Vor 200 Jahren wurde der Komponist geboren, vor 144 Jahren besuchte er die Schweiz

Anton Bruckner ist in seinem Leben durchaus rumgekommen in der Welt: Konzerte als Organist führten ihn etwa nach Paris, Nancy oder London, seine Wagner-Begeisterung nach Bayreuth und München. Eine ausgedehnte Urlaubsreise, eine Reise rein zum Vergnügen also, unternahm Bruckner allerdings nur ein einziges Mal. Über Oberammergau, wo er die Passionsspiele besuchte, führte sie ihn in den letzten August- und ersten Septembertagen 1880 in die Schweiz – und auch nach Luzern.

Die Orgeln der Schweiz wollte Bruckner kennenlernen, vor allem aber den höchsten Alpengipfel, den Mont Blanc. Entsprechend zügig absolvierte er den ersten Teil seiner eng getakteten Tour de Suisse: Von München und Lindau über den Bodensee kommend, reiste Bruckner nach einem Abstecher zum Rheinfall bei Schaffhausen und einem dreitägigen Halt in Zürich, wo er u. a. die Orgel im Grossmünster spielte und nach Rapperswil wanderte, direkt nach Genf und weiter nach Chamonix. Dort angekommen, hatte er allerdings Pech: Wegen schlechten Wetters konnte Bruckner die Mont-Blanc-Gruppe erst bei seinem zweiten Ausflug ins aussichtsreiche La Flégère bestaunen.

Auf dem Rückweg nahm sich Bruckner dann mehr Zeit, um sich im Nachbarland umzusehen: Über Genf, Lausanne, Fribourg und Bern ging’s nach Luzern, wo er vom 8. bis 10 September verweilte. Denn hier lockte ihn die Rigi mit ihrem grandiosen Panorama: Von Vitznau aus gelangte Bruckner mit der Zahnradbahn, die neun Jahre zuvor als erste Bergbahn Europas eröffnet worden war, hinauf nach Rigi Kulm. Er übernachtete auf dem Gipfel und genoss bei Sonnenuntergang und -aufgang die Aussicht auf die Berner Alpen.

Rigi Kulm, Photochrom, um 1890 © Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington
Rigi Kulm, Photochrom, um 1890 © Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington

In seinem Taschenkalender vermerkte Bruckner: «Berner Alpen prachtvoll.» Dann folgt, etwas rätselhaft: «Man sieht über niedere o[der] schief stehende Bergspitzen auf andere ferne stehende; je entfernter die andern, desto besser; dessgleichen: je schiefer.» Das meint wohl: Weil die Gipfel am jenseitigen Ufer des Vierwaldstättersees weder zu hoch sind noch zu dicht stehen, weil sie also nicht den Blick verstellen, sondern Durchblicke gewähren, entsteht ein gestaffeltes Bergpanorama, das die Erhabenheit des fernen Alpenmassivs noch steigert. Natürlich nahm Bruckner auch in Luzern – wie schon in den anderen Schweizer Städten, die er besucht hatte – die Gelegenheit wahr, örtliche Organisten und «ihre» Instrumente kennenzulernen. In Luzern waren dies Pater Ambros Meier, Organist der Hofkirche St. Leodegar, und die dortige Grosse Orgel.

In die Zeit von Bruckners Schweizreise fällt auch die Arbeit an der Sechsten Sinfonie, die er im Jahr zuvor in Angriff genommen hatte und im Folgejahr vollenden konnte. Gleich im Anschluss an seine Rückkehr nach Wien vertiefte er sich in den ersten Satz, den er bereits am 27. September abschloss. Manche Kommentator*innen haben seinen ungewöhnlichen Beginn gar direkt auf Bruckners Urlaubseindrücke bezogen. Die Sechste setzt nämlich nicht mit jenem geheimnisvollen Streichertremolo ein, das so typisch ist für Bruckners Sinfonien. Vielmehr nimmt sie mit einer prägnant rhythmisierten Tonrepetition der Geigen, die an das furiose Finale von Felix Mendelssohns Italienischer Sinfonie erinnert, sogleich Fahrt auf: ein Nachklang der ratternden Eisenbahn?

Der Beginn der Sechsten Sinfonie in Bruckners Autograf © Österreichische Nationalbibliothek Wien
Der Beginn der Sechsten Sinfonie in Bruckners Autograf © Österreichische Nationalbibliothek Wien

Bruckner selbst soll seine Sechste seine «keckste» genannt haben. Ob das bloss dem Reim geschuldet war oder tatsächlich Ausdruck einer gehobenen Ferienstimmung, die sich hier Bahn brach, sei dahingestellt. Wie auch immer: Dass Andris Nelsons und das Leipziger Gewandhausorchester bei ihrem Luzerner Gastspiel am 4. September, genau an Bruckners 200. Geburtstag, ausgerechnet dieses Werk musizieren, ist eine schöne Fügung. Aber selbstverständlich können Sie im Bruckner-Jahr 2024 noch viele weitere seiner Sinfonien bei Lucerne Festival erleben: die Erste (mit Christian Thielemann und den Wiener Philharmonikern), die Fünfte (mit Kirill Petrenko und den Berliner Philharmonikern), die Siebte (mit Yannick Néztet-Séguin und dem Lucerne Festival Orchestra) und die Neunte (mit Lahav Shani und den Münchner Philharmonikern), ausserdem eine Rekomposition der Siebten Sinfonie durch Stegreif, das «Improvising Orchestra» aus Berlin.

Noch ein anderer Urlaubseindruck scheint in Bruckners Sechster Sinfonie nachzuhängen: Bei den Passionsspielen in Oberammergau war der 56-Jährige für eine der Laiendarstellerinnen entflammt, die 17-jährige Marie Bartel. Sie wies seinen (wie so oft äusserst raschen) Heiratsantrag zwar ab. Doch blieb man noch monatelang in Briefkontakt – was Marie Bartl von den vielen anderen Damenbekanntschaften (meist bloss: -sichtungen) unterscheidet, die Bruckner in seinem Taschenkalender akribisch notierte. («Im 2. Stocke vom Bahnhofe am 1. Fenster Fräulein 2 mal herabgesehen. Ist diess eine Fremde? woher? etc. Wunderbar», hält er etwa zur Einfahrt des Zuges in Luzern fest.) Möglicherweise ist es also mehr als Zufall (bzw. mehr als reine Wagner-Verehrung), wenn im «Adagio» der Sechsten immer wieder das «Mild und leise» aus Tristan und Isolde anklingt.

Bis nicht nur der Komponist, sondern auch seine Musik in die Schweiz gelangte, dauerte es übrigens noch einige Zeit. Erst im November 1896, 16 Jahre nach Bruckners Tour de Suisse, erklangen hierzulande Auszüge aus seiner Siebten Sinfonie: die erste dokumentierte Aufführung eines seiner Werke in der Schweiz, und zwar in Luzern. Die beliebte Siebte war dann auch die erste Bruckner-Sinfonie, die bei Lucerne Festival erklang: Hans Münch dirigierte sie 1943 am Pult des Schweizerischen Festspielorchesters. Bruckners Sechste Sinfonie setzte zehn Jahre später Rafael Kubelík erstmals aufs Programm.

Malte Lohmann | Redaktion

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