Jennifer Stumm
Dass viele junge Menschen aufgrund ihrer Herkunft keine Möglichkeit erhalten, ihre Begabung zu entwickeln, das will die amerikanische Bratschistin Jennifer Stumm nicht hinnehmen. Und so gründete sie 2015 Ilumina. Was als soziales Musikprojekt auf einem Bauernhof in den Bergen von São Paulo begann, hat sich in wenigen Jahren zu einem renommierten Kammermusikfestival und einem wichtigen Sprungbrett für junge Talente entwickelt: Ilumina will hochbegabten jungen Musiker*innen aus Südamerika ein Studium an den besten Musikhochschulen ermöglichen und bringt sie dafür mit internationalen Solist*innen zusammen, die sie unterstützen. Gemeinsam mit ihren Mentor*innen gestalten sie Konzerte beim Ilumina-Festival und auf weltweiten Tourneen.
Du bist die Gründerin und Leiterin von Ilumina, einem Projekt, das auf seinem Webauftritt als «ein modernes Modell für die Kreativität des 21. Jahrhunderts und effiziente, von Künstler*innen geleitete Talentförderung» beschrieben wird. Kannst du uns Ilumina und deine Rolle darin kurz vorstellen?
Ilumina ist sowohl ein Projekt für soziale Gleichstellung als auch ein internationales Künstler*innen-Kollektiv mit Sitz in São Paulo (Brasilien). Als reisende Musikerin war ich begeistert von den aussergewöhnlichen jungen Talente mit unterschiedlichstem kulturellen und ökonomischen Hintergrund, denen ich in Lateinamerika begegnete. Auf den Bühnen, auf denen ich spielte, oder an den Konservatorien, an denen ich unterrichtete, sah ich diese Musiker*innen jedoch nicht. Und ich fragte mich, warum das so ist. Ilumina begann zunächst als jährliches Musikfestival, das inzwischen in São Paulo fest etabliert ist und zum Ziel hat, jungen Talenten eine Chance zu geben und eine Gemeinschaft gleichgesinnter Künstler*innen zu bilden. Wir veranstalten das Festival immer noch jedes Jahr auf einer aussergewöhnlichen, nachhaltigen Kaffeefarm, die unser spirituelles Zuhause und unser soziales und künstlerisches Laboratorium ist. Aber die Ilumina-Aktivitäten finden inzwischen das ganze Jahr über statt, mit Tourneen, Bildungsaufenthalten, digitalen Projekten und spartenübergreifenden Kooperationen. Wir leben nach dem «Equal Music»-Prinzip, welches besagt, dass Talente sich nicht aussuchen, wo sie geboren werden, dass alle Bevölkerungsgruppen Zugang zu qualitativ hochwertigen Live-Auftritten verdienen und dass eine gemeinsame soziale Mission und kultureller Austausch für unvergessliche musikalische Momente auf der Bühne sorgen.
Ilumina wurde 2015 gegründet. Was war deine schönste Erfahrung in den vergangenen sieben Jahren und wo siehst du die grössten Herausforderungen für die Zukunft?
Fast 100 junge Talente aus dem Ilumina-Projekt haben ein Studium an den besten Musikhochschulen der Welt aufgenommen – das ist etwas, das es so vorher einfach nicht gab. Sie gewinnen Wettbewerbe, sie spielen an der Spitze ihres Fachs und sie engagieren sich für ihre Gemeinschaft. Durch die digitalen Ilumina-Angebote haben Zehntausende junger lateinamerikanischer Musiker*innen das Wissen, wie sie Zugang zu hochwertigen Informationen erhalten und ihr Studium fortsetzen können. Talent ist nicht das Problem. Sondern Zugänglichkeit. Ich bin so unglaublich stolz auf die Arbeit, die die Ilumina-Gemeinschaft geleistet hat, um die Welt der Musik fairer, kreativer und freudvoller zu machen.
Hat die Pandemie eure Anstrengungen zunichtegemacht oder hat sie euch neue Wege eröffnet, mit der Community in Kontakt zu treten?
Wir haben während der Pandemie eine grosse digitale Initiative als Teil unseres «Equal Music»-Projektes gestartet. Die Mehrheit der Musikstudierenden im globalen Süden erlernt das Musizieren in grossen Orchesterprojekten; Zugang zu Einzelunterricht gibt es für sie auch in guten Zeiten nicht. Da die meisten unserer Künstler*innen in dieser Zeit keine Konzerte spielen konnten, hatte ich die Idee eines Online-Systems, das junge Musiker*innen ohne Unterricht mit Künstler*innen und Lehrpersonen mit viel Freizeit und grosszügigen Herzen zusammenbrachte. Es war fast wie Onlinedating! Schlussendlich haben weltweit fast 1.000 Musiker*innen mitgemacht.
Deine Arbeit konzentriert sich auf landwirtschaftlich geprägte Regionen und die Peripherie, wo es oft keine oder nur wenige Live-Aufführungen gibt. Wie gehst du auf diese Gemeinschaften zu und wie erweckst du das Interesse und die Leidenschaft für klassische Musik – eine Kunstform, die für viele fremd sein mag?
Ja, viele Ilumina-Aufführungen richten sich an Menschen, die noch nie ein Live-Konzert besucht haben (das ändert sich jetzt, da sie jedes Jahr unsere Veranstaltungen besuchen!). Unsere landwirtschaftlich geprägten Hörer*innen sind besonders daran interessiert, ihren Kindern Live-Musik und musikalische Erziehung zu ermöglichen. Wir haben noch nie erlebt, dass die Musik, die wir machen, irgendjemandem fremd gewesen wäre; unser Programm ist immer radikal und deckt ein breites Spektrum an Stilen ab. Wenn wir Aufführungen in peripheren Gemeinschaften realisieren, tun wir das im Geist der Verbundenheit, der Offenheit und mit der Überzeugung, dass diese Menschen Musikerfahrungen von höchster Qualität verdienen – das ist ein grundlegendes Menschenrecht –, sei es nun im Sägewerk auf unserer Farm oder in den grossen Konzertsälen. Ein Publikum ohne Vorurteile ist eine der wertvollsten Erfahrungen, die eine Künstlerin oder ein Künstler machen kann – und oft sind es «schwierige» zeitgenössische Werke, die beim Ilumina-Publikum am besten ankommen! Diese Erfahrungen haben meinen Blick auf die Kraft der Gemeinschaft und auf die Musik, die ich mache, grundlegend verändert. Menschen wollen in Verbindung treten und sich austauschen In diesem Jahr haben wir ein Projekt namens :ECO: ins Leben gerufen, das Kammermusikaufführungen in landwirtschaftlichen Gemeinschaften in Brasilien ermöglicht und zugleich den Bauern und Bäuerinnen eine Stimme gibt, um junge Menschen über Nachhaltigkeit, Klimawandel und die Herkunft ihrer Lebensmittel aufzuklären!
Ilumina ist in São Paulo beheimatet. Denkst du, dass es auch in Europa solche Initiativen bräuchte? Was müsste dabei anders angegangen werden?
Ilumina bedeutet auf Portugiesisch: «Es leuchtet ein Licht.» Kürzlich habe ich bei der NASA in Houston vor einer Gruppe von Wissenschaftler*innen einen Vortrag darüber gehalten, warum Talent die grösste unerschlossene Ressource der Erde ist – selbst im Zeitalter der Automatisierung und der Innovation. Jede Branche, jeder Sport und jede Kunstform wäre wesentlich leistungsfähiger, wenn wir Talente gleichberechtigt fördern würden. Es mag heute noch so gute Ideen geben – die besten stecken weiterhin in den Köpfen von Menschen, die keine Chance erhalten, gehört zu werden! Darum: Ja, wir müssen überall Licht ins Dunkel bringen. Das Wunderbare ist, dass es überall Talent und Ambition in spektakulärem Ausmass gibt! Es fehlt nur an der Finanzierung und an Chancen. Wir müssen kein zusätzliches Wasser in den Fluss giessen, sondern bloss die Steine entfernen, die ihn am Fliessen hindern. Es braucht mehr zielgerichtete Stipendien für junge Künstler*innen, und es braucht Universitäten, die sich der Tatsache bewusst sind, dass es für viele Menschen schwierig ist, Zugang zu einer Spitzenausbildung zu erhalten. Es braucht Kulturinstitutionen, die ihre Verantwortung, Zugänglichkeit zu schaffen, ernst nehmen – sowohl was das Publikum als auch was die Programmgestaltung betrifft. Und wir müssen uns alle die Frage stellen: «Was kann ich mit meinen Talenten und Privilegien tun, um das Beste, was die Welt zu bieten hat, ans Licht zu bringen?»
Was kann das Publikum von eurem Konzert bei Lucerne Festival am 11. August erwarten?
Unser Luzerner Konzert ist «The Nature of Light» betitelt und wird etwas ganz Besonderes, denn es verbindet Musik vom 17. bis zum 21. Jahrhundert. Inszenierung, Beleuchtung und Ausstattung sind oft Teil meiner Arbeit, und ich greife auf die individuellen Talente der Musizierenden in der Gemeinschaft zurück – und das sind zahlreiche! Ich freue mich besonders, dass Mark Padmore mit uns Brittens Les Illuminations aufführen wird, das wollte ich seit Jahren. Wir möchten, dass unser Publikum zunächst von unserer kreativen Energie und der Qualität unserer gemeinsamen Arbeit beeindruckt ist. Denn wenn sie die Geschichten der Musikerinnen und Musiker auf der Bühne kennenlernen, werden sie noch viel mehr ins Staunen kommen.