Jacob Caines / ClassicalQueer
Der Dirigent, Musikwissenschaftler und Musiker Jacob Caines stammt aus dem Kanadischen Halifax. Jacob ist regelmässig Fakultätsmitglied an der Dalhousie University, wo das Dalhousie Wind Ensemble leitet und als Dozent für Musikgeschichte an der Fountain School for Performing Arts tätig ist. Er ist Gründungsmitglied des vom Canada Council for the Arts finanzierten Alkali Collective, das lebende kanadische Queer- und BIPOC-Komponist*innen und -Musiker*innen durch Aufführungen und Auftragsarbeiten unterstützt.
Er ist Gründer und Autor von ClassicalQueer, einem Projekt, das sich der Sichtbarkeit und Unterstützung von queeren Performer*innen, Schriftsteller*innen, Musiker*innen, Kulturmanager*innen und Künstler*innen in Kanada widmet.
Während der Mangel an ethnischer Vielfalt in der klassischen Musik nach wie vor sehr aktiv diskutiert wird, scheint die Branche – auf den ersten Blick – relativ offen gegenüber queeren Musiker*innen. Oder ist das eine naive Annahme?
Es gibt immer wieder Bestrebungen, dass die klassische Musik und ihre Institutionen ihre Zielgruppen besser repräsentieren. Zu dieser Diskussion gehört auch die Intersektionalität von Kategorien wie Geschlecht, Sexualität und Ethnie, die sich überschneiden und in vielerlei Hinsicht miteinander verbunden sind. Ich denke, es ist wichtig, zwischen «Offenheit gegenüber» und dem «Feiern von» queeren Musiker*innen zu unterscheiden. In Anbetracht der statistisch gesehen unverhältnismässig hohen Anzahl queerer Menschen, die in der Kunst arbeiten, gibt es sehr wenig Sichtbarkeit dieser Gemeinschaft innerhalb der klassischen Musikprogramme und der Ausbildung. Andere darstellende Künste (insbesondere die bildende Kunst und die Literatur) haben schon vor langer Zeit damit begonnen, ihre queeren Kolleg*innen zu feiern, aber die klassische Musik hat sich auf sie nur langsam eingelassen.
Gemäss dem «2020/2021 Equality and Diversity in Concert Halls»-Bericht, in dem weltweit 100 Orchester und ihre Programmgestaltung untersucht wurden, sind von den 14.747 Werken, die von diesen Ensembles in der Saison 2020/21 gespielt wurden, 14.010 von weissen Männern komponiert worden. Weniger als 1% davon waren Männer, die sich als queer identifizieren. Wenn man bedenkt, dass in Orchestern auf der ganzen Welt Tausende queerer Menschen aller Geschlechter und Sexualitäten arbeiten, ist das Programm nicht repräsentativ für die Bevölkerung. Bei so vielen queeren Musiker*innen, die in der Branche arbeiten, ist es wichtig, von der blossen Duldung wegzukommen und die Talente, die es derzeit gibt, zu feiern und zu fördern.
Sie sind der Gründer und Autor der Webseite ClassicalQueer. Was möchten Sie mit diesem Projekt erreichen? Auf welche Erfolge seit dem Launch 2018 sind Sie besonders stolz?
Ich sage immer, dass ich ClassicalQueer aus egoistischen Gründen gründete. Ich wusste, dass es viele queere Musiker*innen gibt, die arbeiten und auftreten, aber ich habe selten in Interviews gelesen, wie diese Menschen über ihre Arbeit und ihr Leben sprechen. Ich wollte meine Erfahrungen als queerer Musiker mit anderen Künstler*innen teilen und wissen, wie ihr Hintergrund und ihr Leben sie als Künstler*in und Musiker*in beeinflusst haben. Nachdem ich mich über den Mangel an verfügbaren Inhalten beklagt hatte, beschloss ich, diese einfach selbst zu schaffen. Inzwischen umfasst ClassicalQueer ausführliche Interviews, einen monatlichen Podcast mit meiner europäischen Co-Moderatorin Samantha Jane Smith und Gästen sowie eine Datenbank mit über 150 queeren Musiker*innen aus meinem Heimatland Kanada. Die Webseite ist für Orchester, Institutionen und Universitäten zu einer Möglichkeit geworden, ihre Liste von Künstler*innen zu erweitern und ihr Programm zu diversifizieren.
Ich bin stolz auf die Datenbank, die Interviews und den Podcast. Ich fühle mich geehrt, dass ich diese Stimmen einem Publikum nahebringen kann und dass andere Leute genauso begeistert von der Leistung dieser Menschen sind wie ich. Am stolzesten bin ich jedoch auf die Reaktionen, die ich von queeren Künstler*innen aus aller Welt erhalte. Ich habe von Menschen aus Asien gehört, dass sie bei ClassicalQueer zum ersten Mal gesehen haben, wie queere Musiker*innen gefeiert werden. Ich habe E-Mails von queeren Jugendlichen aus den Vereinigten Staaten erhalten, die mir sagten, dass sie überglücklich waren, sich selbst mit Stolz auf der Bühne vertreten zu sehen. Ich habe mit Kolleg*innen in mehreren Ländern gesprochen, die begonnen haben, die Website zu nutzen, um neue Komponist*innen, Künstler*innen, Dirigenten*innen und Solisten*innen zu engagieren. Obwohl es für mich zunächst darum ging, Kontakte zu knüpfen und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu entwickeln, ist die Möglichkeit für andere auf der ganzen Welt, eine Gemeinschaft zu finden, unglaublich bereichernd. Solange die Website queeren Künstler*innen weltweit zeigen kann, dass sie nicht allein sind, hat ClassicalQueer eine wichtige Funktion.
Nicht alle unserer Leser*innen mögen mit dem Begriff «queer» vertraut sein, gerade im deutschen Sprachraum ist er teilweise noch nicht geläufig. Können Sie uns erklären, was das Wort beinhaltet und warum Sie persönlich es anderen Begriffen, die zur Umschreibung der LGBT+-Gemeinschaft verwendet werden, vorziehen?
Den Begriff «queer» verwende ich aus zwei Gründen. Zunächst geht es darum, «queer» nicht mehr als Schimpfwort zu verwenden und die Geschichte des Wortes neu zu gestalten. Indem sie «queer» verwenden und sich selbst damit bezeichnen, haben viele Menschen mit Freude ein Wort zurückerobert, das besonders im Englischen als herablassend galt. Für mich hat «queer» immer «anders (als)» bedeutet, und so sehe ich mich auch: bewusst anders, als Gegensatz.
Der zweite Grund, warum ich «queer» verwende, ist, dass ich die Komplexität und Intersektionalität der Gemeinschaft bewusst anerkennen will. Es gibt viele Menschen, die sich mit mehr als einer Sexualität oder Geschlechtszugehörigkeit identifizieren. Menschen, die nicht als irgendetwas etikettiert oder klassifiziert werden wollen und es vorziehen, in Sachen Geschlecht und Sexualität fliessend zu sein. Ausserdem Menschen, die noch nicht wissen, mit welchen Begriffen sie sich identifizieren. Viele Menschen wechseln im Laufe ihres Lebens zwischen verschiedenen Begriffen, sodass die Festlegung auf ein Akronym wie LGBT+ als einschränkend empfunden wird. Es gäbe zudem noch viel mehr Buchstaben, die hier hinzugefügt werden müssten, um z. B. pansexuell, sapiosexuell, gender-fluid, nicht-binär, gender-nichtkonform usw. einzubeziehen. «Queer» ist ein Oberbegriff, der alle nicht-heteronormativen Menschen und Geschlechter einschliesst.
Wenngleich sich viele Menschen für mehr queere Sichtbarkeit in der klassischen Musik einsetzen, kann es auch als problematisch angesehen werden, Komponist*innen und Interpret*innen, die schon lange tot sind, mit bestimmten Begrifflichkeiten zu beschreiben. Was halten Sie davon, den gegenwärtigen Diskurs und seine «Labels» auf Künstler wie Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, Franz Schubert oder Jean-Baptiste Lully zu übertragen?
Ich neige dazu ebenfalls zur Meinung, dass es nicht die beste Praxis ist, einem Komponisten oder einer Komponistin posthum ein Etikett aufzudrücken. Ich suche den Dialog mit lebenden Künstler*innen, die darüber sprechen können, was Queerness für sie bedeutet und mit welchen Begrifflichkeiten davon sie sich bezeichnen. Sie wählen diese Identitäten selbst und können artikulieren, warum sie das tun. Lully mag nach dem heutigen westlichen Verständnis des Wortes sehr wohl queer gewesen sein. Vielleicht hätte er sogar entschieden, mit diesem Etikett in der Öffentlichkeit aufzutreten. Aber er lebt nicht mehr, und ihm eine Identität zuzuschreiben, ohne dass er davon unser modernes Verständnis gehabt hätte, ist nicht fair. Historische Queerness ist ein äusserst nuanciert zu führender Diskurs, bei dem Ort, Zeit, soziale Stellung, Wohlstand, Macht, Geschlecht und Kultur berücksichtigt werden müssen. Auch wenn Schubert aus heutiger Sicht queer erscheinen mag, würde er – wäre er noch am Leben – nach Betrachtung der Definition sich selbst vielleicht überhaupt nicht so sehen. Wer sind wir, ihm zu sagen, dass er es war?
Ich sehe es eher so: Unabhängig davon, ob diese wunderbaren Komponist*innen queer waren oder nicht, gibt es heute Tausende lebenden Interpret*innen, Dirigent*innen und Komponist*innen, die gerne dazu beitragen würden, queere Sichtbarkeit in der klassischen Musik zu erhöhen. Lassen wir zu, dass Tschaikowsky aufgeführt wird, ohne dass über seine Sexualität spekuliert wird, und programmieren wir lebende Künstler*innen, die uns an ihrem Leben und seinem Einfluss auf ihre Arbeit teilhaben lassen.
Sie promovieren derzeit an der Concordia University, wo Sie die Forschung zu kanadischer Urbanistik und Geografie, zu queeren Künstler*innen und zum aktuellen Zustand der klassischen Musik zusammenführen. Wo haben Sie die überraschendsten Überschneidungen oder Diskrepanzen festgestellt?
Ich untersuche, wo die kanadischen Staats-, Provinz- und Gemeinderegierungen Mittel für Kunst und für queere Projekte im Vergleich zu anderen Sozialprogrammen bereitstellen. Angesichts der Bevölkerungszahl queerer Menschen in Städten (die wir anhand der kanadischen Volkszählungsdaten kennen) gibt es eine grosse Diskrepanz bei der verfügbaren Unterstützung, wenn man sie mit anderen Sozialprogrammen vergleicht. Diese Anerkennung durch Unterstützung spiegelt sich auch in den klassischen Musikinstitutionen vieler Städte wider. Wir haben Regierungen und Institutionen, die Bevölkerungsgruppen begünstigen, die nicht repräsentativ für die tatsächliche Gesellschaft sind, in denen sie leben. Kanada steht seit Jahrzehnten an der Spitze der Queer-Politik, und obwohl wir hier das Glück haben, von unserer Verfassung unterstützt zu werden, gibt es eindeutig noch viel zu tun.
Wenn man sich bereits mit dem Thema auseinandersetzt, scheint dies vielleicht selbstverständlich, aber ich glaube, dass es für Menschen, die keiner Minderheit angehören, befremdend sein kann, zu erfahren, dass Gewichtung und Fokus der öffentlich finanzierten Unterstützung nicht auf eine angemessene Vertretung der allgemeinen Gesellschaft ausgerichtet sind. Die klassische Musik in den westlichen Ländern (einschliesslich Kanada) stand lange Zeit nur mit sich selbst im Dialog und nicht mit der sie umgebenden Gesellschaft. Egal wie oft ich in meiner Forschung daürber gestolpert bin, finde ich es immer wieder überraschend. Selbst unsere sehr queer-freundlichen Städte Montreal, Toronto, Vancouver und Halifax müssen noch viel tun, damit die Infrastruktur und die Finanzierung ihre Bevölkerungsstruktur widerspiegeln.
Was kann ein Festival wie Lucerne Festival tun, damit sich queere Künstler*innen und Zuhörer*innen willkommen fühlen? Wie können wir sicherstellen, dass sie ihre eigenen Geschichten erzählen können und gesehen und gehört werden?
Für ein Festival oder eine Institution ist es ein schmaler Grat zwischen Visibilität und Alibipolitik. Pride-Veranstaltungen sind wichtig und können der Community signalisieren, dass die Organisation ihre Anwesenheit und Teilnahme schätzt. Es ist aber auch wichtig, dieses Ethos in die reguläre Programmgestaltung zu übernehmen. Zunehmend werden Institutionen, Unternehmen und Organisationen auf der ganzen Welt dafür gerügt, dass sie sich nur während des Pride-Monats Juni um die queere Community kümmern würden. Um über die Alibipolitik hinauszugehen, sollten Vertreter*innen aller Kunstgattungen einen Blick in die Statistiken der Komponist*innen werfen, die in regulären Festivals und Orchester-Spielzeiten aufgeführt werden. Werden queere Künstler*innen regelmässig gebucht? Wird (queeren) People of Colour die Möglichkeiten geboten, sich in der klassischen Musik zu entfalten und erfolgreich zu sein? Werden auch 2022/23 und 2023/24 von den 15.000 Werken, die von den obenerwähnten Orchestern aufgeführt werden, 95% von weissen Männern komponiert sein? Wie viele davon sind lebende Komponist*innen?
Doch anstatt düsteren Gedanken nachzuhängen, schaue ich mir gerne ein Orchester an und denke an all das Potenzial vor meinen Augen. Klassische Musik und jede andere Kunst reflektiert unsere Lebenserfahrung und die damit verbundenen Schwierigkeiten und Probleme. Wenn unsere Kulturinstitutionen nur einen kleinen Teil der Bevölkerung ihrer Stadt ansprechen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir keine rekordverdächtigen Publikumszahlen haben, keine neuen Perspektiven und keine Stimmen, die neue Geschichten erzählen. Wenn die klassische Musik jedoch die Stimme für viele sein kann, wird das Publikum begeistert und stolz darauf sein, dass ihre Geschichten erzählt werden, und wir werden stolz darauf sein, dass wir diese Erzählungen ins Bewusstsein gebracht haben. Vor uns als klassische Musiker*innen liegt eine grosse Chance – wir müssen sie nur ergreifen.