Aus Anlass von Pierre Boulez’ 100. Geburtstag wird der Radiomitschnitt der damaligen Aufführung, klanglich restauriert, in der Reihe «Historic Performances» veröffentlicht.
Hier online hörenEs ist eine auf den ersten Blick unwahrscheinliche Konstellation: Das legendäre Alban Berg Quartett spielt Pierre Boulez’ Livre pour quatuor – und bestreitet ausgerechnet mit dieser hochkomplexen seriellen Partitur, an der Boulez ein Leben lang feilte, sein Luzerner Festival-Debut.
Aber genauso geschah es. Als sich Pierre Boulez am 5. September 1983 dem Luzerner Festspielpublikum in der Reihe «Musica nova» erstmals als Komponist vorstellte, interpretierte das bereits damals weltbekannte Quartett die Teile Ia und Ib aus seinem Livre: expressiv, plastisch ausgeformt, mit silbrig-warmem Timbre. Günter Pichler, der ehemalige Primarius des Alban Berg Quartetts, erinnert sich an die Umstände, die zu diesem besonderen Konzertereignis geführt haben.
Wir waren noch ein junges Quartett – es muss 1976 gewesen sein, ein Jahr vor dem von Pierre Boulez in Paris initiierten Zyklus «Passage du XXe siècle» –, als wir in Baden-Baden ein Konzert mit Rundfunkaufnahme spielten. Unter anderem stand das Streichquartett op. 3 von Alban Berg auf dem Programm. Wir waren furchtbar nervös, haben buchstäblich ums Leben gekämpft, und es kann sein, dass auch einige «Unfälle» passierten. Nach dem Konzert erschien Boulez und meinte, er habe völlig vergessen, was für ein fantastisches Stück Bergs Opus 3 sei. «Und ihr habt es grossartig gespielt. Ich habe mir überlegt, euch nach Paris einzuladen, um dort die Quartette der sogenannten Zweiten Wiener Schule dem Publikum darzubieten.» Er meinte damit den erwähnten Zyklus, bei dem unter anderem auch Daniel Barenboim und Pinchas Zukerman auftraten – eine illustre Besetzung. Als wir am Schluss zusammensassen, bat Boulez Nicholas Snowman, ehemals seine rechte Hand, er möge doch in Frankreich Meisterklassen mit uns organisieren; denn «cette sonorité n’existe pas en France». Als Snowman später das Londoner Southbank Centre leitete, wies Boulez ihn an, uns mit Quartetten des 20. Jahrhunderts zu engagieren, und zwar bei vollem Honorar (obwohl der Saal halbleer sein werde, «aber das wird sich ändern»), samt Flügen und Unterkunft im nächstgelegenen, besten Hotel. Das war das «Savoy» …
Seither standen wir mit Boulez in losem Kontakt. Er hat dann auch in der Queen Elizabeth Hall, wo wir aufgetreten sind, eine Vorlesung gehalten. Später kam die Anfrage – allerdings nicht von ihm, sondern direkt von den Festspielen –, in Luzern einen Teil des «Livre» zu spielen, zugleich unser dortiges Debut. Wir haben uns die Noten besorgt, sie für eine Aufführung zurechtgeschnitten und die beiden kurzen Sätze einstudiert. Das Zuschneiden war nötig, um nicht umblättern zu müssen. Denn das wäre bei dieser doch in jeder Hinsicht äusserst schwierig zu realisierenden Musik unmöglich gewesen. Wir haben uns unglaublich bemüht, auch mit Farben gearbeitet, um ein möglichst präzises Resultat zu erreichen. Die Notation, vor allem die Tempoangaben, lässt sich kaum ganz genau umsetzen.
Wir trafen Boulez in Luzern erst am Vormittag des Konzerttages und spielten ihm vor. Ich teilte ihm mit, dass trotz aller Bemühungen nicht alles exakt realisierbar sei. Er stimmte zu und erklärte, er habe zwar beispielsweise die Metronomangaben präzise vermerkt, aber es sei so, als schwimme man ohne Wasser. Unser Spiel fand sein Gefallen. Ich erinnere mich allerdings, dass er bei einem Doppelflageolett in meinem Part abbrach mit der Bemerkung: «Günter, das ist kein d, sondern ein f.» Einer der vielen Fingerzeige auf sein phänomenales Gehör.
Weil wir das «Livre» nach der Luzerner Aufführung – trotz des grossen Aufwands – beiseitelegten (wie Boulez selbst übrigens auch), bin ich glücklich darüber, dass sich unsere einmalige Wiedergabe als Tondokument erhalten hat. Und ich bin überrascht – wie es ja oft der Fall ist, wenn man selbst spielt –, dass sie mich beim späteren Anhören viel besser dünkt als im Moment der Darbietung. Die wenigen Minuten sprechen mich heute mehr an als damals. Ich freue mich deshalb sehr, dass dieses singuläre Ereignis zu Boulez’ 100. Geburtstag wieder zugänglich gemacht wird.
Aufgezeichnet von Erich Singer